Baukunst im Spiegelglas des Augenblicks

moderne-hauswand-von-unten-fotografiertchristian-perner.jpg

Gabriele Reiterer
Neue Zürcher Zeitung
22. Dezember 2015

Die Neuerscheinung «Vom Nutzen der Architekturfotografie» untersucht den «kulturellen Wert» der Architekturfotografie. Gleichzeitig beleuchtet sie die Beziehung von Bild und Architektur.

Nicht der Schrift-, sondern der Photographieunkundige wird, so hat man gesagt, der Analphabet der Zukunft sein. In seiner „Kleinen Geschichte der Photographie“ von 1931 zitiert Walter Benjamin eine seherische Aussage von Charles Baudelaire. Benjamin erblickte in der Fotografie jene Eigenschaften, die über die reine Abbildung sichtbarer Realität weit hinausreichen. Er war fasziniert vom magischen Moment, vom Augenblick, dem Geheimnisvollen, dem Verborgenen, der emotionalen Wahrnehmung und begriff die Bedeutung des Mediums Fotografie instinktiv.

Was wäre Architektur ohne ihr fotografisches Abbild? Die visuelle Kargheit eines um die vorvorige Jahrhundertwende gedruckten Buches über Architektur oder Städtebau, das sich mit blassen Heliogravuren begnügt, würde heute wohl kaum mehr ansprechen. Ohne die Fotografie wäre Architektur kaum zu vermitteln. Die Kuratorin und Kulturtheoretikerin Angelika Fitz und die Gestalterin Gabriele Lenz haben einen Band ediert, der sich der Architektur und ihrer Fotografie widmet. Vom Nutzen der Architekturfotografie untersucht den ‚kulturellen Wert’ der Architekturfotografie und beleuchtet Positionen zur Beziehung von Bild und Architektur. Die einleitenden Worte führen den Leser und Betrachter in eine intelligent kuratierte Dramaturgie, die sich um den Begriff der Nutzung schlängelt. Weniger um den Abbildcharakter der Fotografie und Architektur bedacht, nehmen sich die reflektiven Beiträge des Beziehungsgeflechts zwischen Individuum, Raum, Investor und schließlich der Architektur und der Fotografie an. In zehn thematischen Kapiteln erfolgen episodenartige Analysen. Sie sind visuell angelegt, die Fotografie und die Fotografen erklärt sich somit selbst und vermitteln implizit auch die Bedeutung der künstlerischen Identität der Architekturfotografen und Fotografinnen. Reflektiert werden auch die Rahmenbedingungen der Architekturfotografie. Beiträge behandeln das dynamische Verhältnis von Fotografie und Architektur und folgern ein Potenzial der Fotografie als analytisches Instrument zum Nutzen der Architekten und Architektinnen. Weiters wird die Rolle der Fotografie zur diskursiven Formation wie etwa jener der klassischen Moderne befragt.

Und wie ist es mit unseren Sehgewohnheiten beschaffen? Der Moderne diente das „Bild“ als wichtigste rhetorische Botschaft. Die visuelle Vermittlung überholte die geschriebene Sprache. Die Folge dieser visuellen Strategie war eine Veränderung der Ästhetik des Gebauten, die sich zunehmend – so paradox dies klingen mag – von ihrer eigenen Dokumentation beeinflusst zeigte. Die vermeintlich nur dokumentierende Fotografie wurde zum dialektischen Treibmittel der modernen Ästhetik. Somit haben die Bilder die Geschichte der Architektur verändert, aber nicht durch die Objekte, die abgebildet wurden, sondern einzig und allein, weil diese gedruckt wurden. Eine ähnliche Dynamik lässt sich auch in der gegenwärtigen Architektur- und Städtebaudiskussion beobachten. Die Dominanz der Bildästhetik prägt in hohem Maß den architektonischen Diskurs der Gegenwart. Die Ästhetik des digitalen Zeitalters ist zum formierenden Bestandteil der Architektur(ästhetik) und unseres Bildes der Stadt geworden. Virtuelle Bilder und Raumsimulationen beeinflussen Entwurfsansätze und Umsetzungen in der Architektur. Unser gegenwärtiges urbanistisches und architektonisches Image ist in hohem Maß von virtueller Bildkultur geprägt. Bilderwelten umfluten uns wie im barocken Spiegelkabinett und begleiten die Architektur.

Die Architekturfotografie war und ist seit je eine poetologische, philosophische und diskursive Reflexionskraft. Das Buch „Vom Nutzen der Architektur“ wurde von der Interessensgemeinschaft der österreichischen Fotografen und Fotografinnen initiiert und in einer Arbeitsgemeinschaft umgesetzt. Es ist ein intelligentes und zugleich sehr poetisches Buch. Als Desideratum schließt es zum im wahrsten Sinne des Wortes bislang unterbelichteten Thema eine Lücke. Und Erkenntnisgewinn und Schauvergnügen gehen, mit den eigenen Worten von Angelika Fitz, bei diesem inhaltlich und auch gestalterisch gelungenen Band, Hand in Hand.

Zurück
Zurück

Ich gestalte, also bin ich

Weiter
Weiter

Athen an der Donau