Gesetze der Mechanik

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Neue Zürcher Zeitung
5. März 2011

Vor fünfundachtzig Jahren machte sich der Philosoph Ludwig Wittgenstein an den Bau eines Hauses in Wien. Das Gebäude ist ein kühler, eigenwilliger Solitär, eine singuläre Erscheinung am Höhepunkt der Wiener Moderne und eine Hommage an die Newtonschen Gesetze der Mechanik.

Der weisse, kubisch-unregelmässige Körper steht seit 1928 zwischen der Parkgasse und der Kundmanngasse in Wien. Neben ihn setzte sich in den siebziger Jahren ein bräunlich-schwarzer Nachbar, der das Haus um viele Geschosse überragt und es förmlich zu ersticken droht. Dessen Metallarme greifen wie stählerne Krieger auf Wittgensteins Haus. Sie sind Symbole der Ignoranz einer späteren Zeit. Beim Betreten des Hauses klemmt die metallene Eingangstüre ein wenig. Die zögerlichen ersten Schritte orientieren sich im zurückhaltenden Entrée. Die Atmosphäre des kahl gefegten, maschinengleichen Hauses ist überwältigend und lässt innehalten.

«Mein lieber Keynes! Ich habe mich der Architektur zugewandt. Ich bin jetzt dabei, in Wien ein Haus zu bauen. Das macht mir einen Haufen Sorgen, und ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob ich's nicht verpfusche», schreibt Ludwig Wittgenstein im Sommer 1927 in einem Brief an John Maynard Keynes. Dem Schreiben war eine längere Geschichte vorangegangen. Bereits im Jahre 1925 beschäftigte sich Margarethe Stonborough-Wittgenstein mit der Idee zum Bau eines Stadthauses. Ludwig Wittgensteins Lieblingsschwester hatte beim Bau ihres Hauses an den Architekten, Dichter, Philosophen und Loos-Schüler Paul Engelmann gedacht. Engelmann, ein Freund von Ludwig Wittgenstein, bat schliesslich Margarethe Stonborough darum, diesen in der Sache zu Rate zu ziehen. Wittgenstein zeigte sich von Anfang an sehr interessiert und wendete die «Sache» bald entscheidend. Schnell avancierte er zum «Architekten» und zog Engelmann zu Rate. Auf dem Grundstück des benachbarten elterlichen Palais wurde das Baubüro errichtet, anschliessend nahmen Planung und Bau der «Kundmanngasse» zwei Jahre in Anspruch, ein Zeitraum, in dem sich Wittgenstein ausschliesslich mit Architektur beschäftigte.

Gelenkartige Raumverbindungen

Das unterkühlte Entrée zelebriert grossbürgerlich-repräsentative Noblesse. Margarethe Stonborough hielt auch in jenen Jahren noch nicht viel von der Privatheit des Wohnens der Moderne. Zur Linken befanden sich Garderobenraum und Speisezimmer, zur Rechten der «Saal» sowie Wohnzimmer und Schlafraum von Margarethe Stonborough. Die Türen sind aus schwerem, zum Teil massivem Metall, zum Teil mit eingesetztem Glas. Tiefschwarze Kunststeinplatten bedecken den Boden im gesamten Erdgeschoss. Obwohl das Haus im Jahre 1926 konzipiert wurde, findet sich kein «floating space», kein fliessender Raum, wie ihn die Architekten der Moderne in jenen Jahren zunehmend forderten. Die Räume im Haus Wittgenstein verhalten sich wie in einem präzisen, beweglichen Körper. Sie sind wie durch Scharniere miteinander verbunden. Das Funktionsprinzip des Hauses beruht auf durchdachten, nahezu gelenkartigen Raumverbindungen. Sie sind auch heute immer noch deutlich auszumachen, obgleich in den siebziger Jahren eine Wand eingerissen wurde.

Es sind die Gesetze der Mechanik, welche dieses Haus in Gange setzten, ja zum Leben erweckten. Es funktionierte wie eine perfekte, wunderbare Maschine. Wittgensteins technische Systeme trotzten lange der Schwerkraft und atmeten den Hauch von strenger Schönheit. Mittlerweile sind sie träge geworden. Das Haus mit seinen ehemals perfekt geölten Lagern, Getrieben und Scharnieren scheint sich einer alten Dame gleich müde und mit Noblesse zurückgezogen zu haben. Doch um es aus seinem Schlummer zu wecken, bedarf es wenig.

Hommage an die Newtonschen Gesetze

Am Boden vor den grossen Fenstertüren befinden sich kleine Öffnungen. Durch eine Bewegung mit einer Metallstange schwebt, wie von leichter Zauberhand, eine zentnerschwere Metallkurtine empor. Wittgenstein hatte seiner Schwester verboten, Lüster aufzuhängen, Teppiche hinzulegen und Vorhänge im Hause anzubringen. Allabendlich fuhren die Metallkurtinen hoch und schirmten die Bewohner des Hauses vor den Blicken ab. Wittgensteins Haus war eine Hommage an die Newtonschen Gesetze der Mechanik. Weit entfernt vom funktional-technischen Verständnis der Moderne, beschwor der Philosoph das Minimum mit höchstem Aufwand und bändigte den Fluss der Kraft. Die Mechanik dieses Hauses war Präzisionsarbeit, millimetergenau nach eigenen Entwürfen gefertigt und in der Ausführung äusserst kostspielig. Wittgenstein lobte die Firma Weber & Co in Wien, welche die Metallarbeiten ausgeführt hatte, in einem persönlichen Schreiben: «Ich kann sagen, dass es ohne Ihre Arbeit unmöglich gewesen wäre, den Bau in der dieser Bauart notwendigen Präzision & Sachgemässheit herzustellen. Es ist meine Überzeugung, dass keine Firma in Wien imstande gewesen wäre, das was ich fordern musste, in ähnlicher Weise zu erfüllen.»

Die ewige Gretchenfrage, ob Ludwig Wittgenstein seine Philosophie in diese Architektur übertragen hat, kann so eigentlich nicht gestellt und deshalb bis heute auch nicht beantwortet werden. Wittgenstein fand ganz offensichtlich am Entwerfen des Hauses grossen Gefallen. Bereits in der Planungsphase unterzeichnete er die Unterlagen stolz mit dem Vermerk «Wittgenstein Architekt». Parallelen in der Haltung des Architekten und jener des Philosophen mögen sich durchaus finden. «Der Gegenstand ist einfach», heisst es im «Tractatus logico-philosophicus». «Der Gegenstand ist das Feste, Bestehende; die Konfiguration ist das Wechselnde, Unbeständige. Die Konfiguration der Gegenstände bildet den Sachverhalt. Im Sachverhalt verhalten sich die Gegenstände in bestimmter Art und Weise zueinander. Die Art und Weise, wie die Gegenstände im Sachverhalt zusammenhängen, ist die Struktur des Sachverhaltes.»

Atmosphärische Kontraste

Am ehesten kann im Haus von Ludwig Wittgenstein von einer Stimmung die Rede sein, welche in das Haus eingeflossen ist. Wittgenstein gestaltete fein austarierte Pole von schwer und leicht, warm und kalt, alt und neu, reduziert und arabesk. Genau diese atmosphärischen Kontraste bestimmen in hohem Masse das Haus. Sie finden Ausdruck über die Materialien, den schwarzen Kunststein, das Metall der Türen und der Fenster – und als starken Kontrast den einst barock schimmernden Stuccolustro an den Wänden. Ästhetisch mehr als radikal ist die Geste eines Aufzugs, der nüchtern-konstruktiv im Haus offen sichtbar ist.

Wittgensteins Haus atmet die Genauigkeit eines höchst präzisen Instruments. Aber von einer Philosophie, die in die Architektur des Hauses geflossen sei, kann wohl kaum gesprochen werden. Ein bestimmtes Denken mag eine gestalterische Handlung leiten, vielleicht auch prägen, doch Bauen bleibt stets eine eigene Sprache.

Die Wiener Architektenszene ignorierte seinerzeit die «Sache» weitgehend. Von Ernst Plischke ist ein ziemlich vernichtendes Urteil, das sich hauptsächlich auf die Fenster bezog, überliefert. Sonst aber herrschte einheitliches Schweigen. Als Haus des Philosophen ist es in die Geschichte eingegangen. Das Haus Wittgenstein ist in allem eine singuläre Erscheinung. Es vereinigt sämtliche Zutaten für die Legendenbildung. Wer in diesen Mauern aber die Haus gewordene Logik abgebildet sehen möchte, liegt mit seiner Hoffnung genauso falsch wie mit der Annahme, Wittgensteins philosophisches Spätwerk zeige sich darin verkörpert. Denn ein Haus ist ein Haus. An den Massstäben der Architektur(geschichte) gemessen, ist das Haus in der Wiener Kundmanngasse weder ein Bau der Moderne noch Stein gewordene Philosophie. Es ist ein rätselhafter Findling, traumverloren, ein kühler, stummer Solitär, der die rationale Glut des Philosophen mit den ureigensten Gesetzen der Architektur vereint und am Höhepunkt der Moderne souverän von ihren Programmen Abschied nimmt.

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Die Biologie des Bauens

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„Egal, wie tief die Pfützen sind“