Die verlorene Geschichte von Skopje

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Gabriele Reiterer
Der Standard
27. Juli 2008

Im Juni blühen in Skopje die Linden. Die ganze Stadt ist vom intensiven Duft erfüllt, den sie verströmen. Unter einem der riesigen schattenspendenden Bäume liegt das Straßencafé des Hotel Bristol, eines der wenigen übriggebliebenen Bauten des einstigen Skopje.

Am späten Nachmittag des 25. Juli 1963 kündigte Radio Skopje einen sommerlich heißen Folgetag an. Wenige Stunden später stand die Stadt nicht mehr. Im Morgengrauen des 26. Juli zerstörte ein zwanzig Sekunden dauerndes Erdbeben die mazedonische Hauptstadt. Fast alle wichtigen Gebäude fielen in Trümmer, mehr als tausend Tote wurden gezählt. Weitgehend unversehrt blieb der osmanische Teil, die Altstadt Skopjes am linken Ufer des Flusses Vardar.

Bereits wenige Tage nach dem Beben wurde der Bau einer neuen Stadt beschlossen. Marschall Tito sprach von der Notwendigkeit internationaler Unterstützung und Solidarität, die Skopje nun erhalten sollte. Trotz politischer Spannungen in der härtesten Zeit des Kalten Krieges wurde ein internationales Vorhaben über alle politischen Grenzen hinweg initiiert. Die Vereinten Nationen schrieben einen Wettbewerb für die Erbauung einer neuen Stadt aus. Eine Gruppe handverlesener internationaler Architekten und Stadtplaner, darunter der Italiener Luigi Piccinato und der Niederländer Jacob Bakema, wurde zur Teilnahme geladen. Der japanische Architekt Kenzo Tange setzte sich mit seinem Entwurf des Masterplans mehrheitlich durch.

Allerdings wurden als „zweite“ Gewinner, neben Tange auch Radovan Mišèeviæ und Fedor Wenzler vom kroatischen Institut für Städtebau ausgezeichnet. Schließlich planten Teams japanischer, mazedonischer, kroatischer, griechischer und polnischer Architekten die in drei Zonen geteilte neue Stadt. Innerhalb weniger Monate wurde die mazedonische Hauptstadt zum internationalen Symbol, zum einzigartigen historischen Beispiel für internationale Solidarität und zum Zentrum einer urbanistischen Debatte zur Idealstadt. Die Augen der Welt waren auf Mazedonien gerichtet. Am 12. Februar 1965 erschien zu den Planungen in Skopje ein ausführlicher Bericht in der New York Times. Nachdem Teile der Planstadt über die Jahre errichtet worden sind, geriet die Bautätigkeit aus politischen Gründen Anfang der Achtzigerjahre ins Stocken, um schließlich ganz zu enden.

Eine geteilte Stadt

Wer nach Skopje kommt, erlebt die unvergleichliche Schichtung einer geteilten Stadt. Rechts des Flusses ragen die Wohntürme in die Höhe, ein Bürogebäude gleicht einem Raumschiff aus skulpturalem Beton, daneben liegt das Postgebäude wie ein umgedrehter versteinerter Krake. Auf der linken Seite des Flusses wurden die Kulturbauten des neuen Skopje erbaut. Die Oper, nach einem Entwurf slowenischer Architekten aus dem Jahre 1968, gleicht einer weißen scharfkantigen Skulptur, ein ausgreifender geometrisch-kristalliner Bau, dessen außergewöhnliche Raumfluchten Überraschungen bergen.

Vom Hauptplatz im neuen Teil der Stadt führt die Kameni most, die alte symbolträchtige Brücke über den Fluss Vardar, in die Altstadt Skopjes. Die orientalisch geprägte Stadt, die Èaršija, ist voller verwinkelter Gassen, kleiner eingeschoßiger Häuser, reizvoller kleiner Plätze mit plätschernden Brunnen, beschirmt von mächtigen alten Bäumen. Hier wird die außergewöhnliche räumliche Qualität der orientalischen Städte spürbar. In der Èaršija liegen die Moscheen, Hamam, die alten Karawansereien und noch existierenden einstigen Handwerkergassen.
Nicht selten steigen im Sommer die Temperaturen in Skopje auf mehr als vierzig Grad. Die Stadt gleicht in diesen Tagen einem Glutkessel, nur die Morgen- und Abendstunden sind erträglich. Um der Hitze zu entfliehen, reicht ein kurzer Weg. Die Stadtviertel an den Hängen des Vodno, des Berges bei Skopje, sind paradiesisch grün.

Die Stadt kippt hier wie ein Vexierbild plötzlich in eine üppige Kulturlandschaft mit Weingärten und Gemüsefeldern, in ein duftendes paradiesisches Land mit fruchtbarem Boden. Die Planstadt scheint weit entfernt. In den Abendstunden herrscht hier angenehme Kühle, der Blick auf die dunstige Stadt ist einzigartig. In der Nacht schwirren unzählige Glühwürmchen durch die Luft, am Wegrand sind Schildkröten anzutreffen.

Kampf um die Unabhängigkeit

Nach mehr als einem Jahrzehnt der Unabhängigkeit kämpft das kleine Mazedonien mit wirtschaftlichen Problemen. Die Probleme der ethnischen Diversität wiegen beträchtlich. Auch wenn es im Alltag ein Nebeneinander gibt, ist der Glaube an ein Miteinander kaum vorhanden. Die Südseite und die Nordseite des Vardar sind in Skopje Symbole einer getrennten Gesellschaft. Die ethnischen Grenzlinien sind messerscharf, die gebaute Stadt ist davon geprägt.

Insgesamt ist ein höchst eigenwilliges Geschichtsbild der Stadt und ihrer Identität im Bewusstsein vieler Bewohner verankert. So kursieren mündlich überlieferte Versionen der jüngeren Geschichte Skopjes, die mit den Fakten nicht viel gemein haben. Erzählt wird die Geschichte des schrecklichen Erdbebens und eines japanischen Stadtplaners, Tange, der kam und die Stadt nach dem Beben ein zweites Mal zerstörte. Die kaum zugänglichen, völlig lückenhaften Archive Skopjes tun ein Übriges, die Erinnerung zu verwischen.

Vor allem aber zirkuliert in der mazedonischen Hauptstadt das Gespenst der architektonischen Rekonstruktionen. Der Wiederaufbau einiger prominenter Gebäude des „alten“ Skopje wird debattiert. Auch ein Wettbewerb für den Bau einer Kirche in der Manier des 14. Jahrhunderts am Hauptplatz Skopjes wurde ausgeschrieben. Die Idee, die alte Stadt in Teilen wiederauferstehen zu lassen, entstammt einem nicht unproblematischen nationalistischen Gedanken.

Urbanistische Melange

Identität ist das Schlagwort, Identitätsfindung der Wunsch. Bedauerlicherweise werden bei dieser Suche bereits vorhandene interessante Potenziale dieser ungewöhnlichen Stadt wenig erkannt und gewürdigt. Die mazedonische Hauptstadt ist eine unvergleichliche urbanistische Melange aus verschiedenen Zeiten und Welten. Skopje ist ein Manifest, ein Versuch einer sozialutopischen Planstadt in der Begegnung mit osmanischem Erbe.

Skopjes Erdbeben war tragisch und mit immensem Leid verbunden. Skopje mag damals einen Teil der Geschichte verloren haben, und gleichzeitig hat es auch gewonnen. Mit gebührendem Abstand betrachtet, ist aus genau dieser Situation jene besondere urbane Identität Skopjes erwachsen. Skopje zählt zur heterogensten, zur vielleicht auratischsten Stadt des südlichen Balkans. Die Faszination der Stadt liegt in den Schichtungen, dem Aufeinanderprallen urbaner Welten, wie sie verschiedener und konträrer nicht sein könnten. Das abstrakte urbane Gebilde, das Kenzo Tange gemeinsam mit anderen Architekten als neue Stadt bereitstellte und das nur zum Teil realisiert wurde, spiegelt jene Absurdität, die allen Städten vom Reißbrett eigen ist.
Tanges Idee von Skopje lagen jene ambitionierten gesellschaftsutopischen Visionen der Sechzigerjahre zugrunde, die nicht selten unsanft landeten. Planstädte haben sich von jeher nur sehr bedingt umsetzen lassen. Städte besitzen schlichtweg ein ausgeprägtes Eigenleben und lassen sich genauso wenig steuern wie die Menschen, die sie bewohnen.

In Skopje hat sich das städtische Leben mit einer gewissen Unbekümmertheit über alles Planhafte, Zerrissene, Zerstörte und Verlorene hinweggesetzt. An vielen Stellen überwuchert die Vegetation die monumentalen Betongebilde, die großangelegten Vorplätze sind zu wilden, üppigen, grünen Inseln gewachsen. Ivan Mirkovski, ein junger mazedonischer Architekt, fand im Jahr 2006 im hintersten Speicher des Stadtmuseums von Skopje Kenzo Tanges Modell, mit dem der Japaner den Wettbewerb für den Masterplan gewonnen hatte. Es war in vier Teile zerlegt und verstaubte vergessen und unbeachtet in einem Eck des Depots.

Mirkovski hat 2008 eine Initiative ins Leben gerufen. Alljährlich bildet das „Forum Skopje“ eine Plattform für einen interdisziplinären architektonischen und städtebaulichen Diskurs zu Gegenwart und Zukunft Skopjes. Dies ist nicht nur für die Bewohner der Stadt von Bedeutung. Auch aus unserer Sicht ist wenig Wissen um die „neuen“ europäischen Städte vorhanden. Die urbanen Zentren Südosteuropas sind vielfach noch eine Terra incognita, die es in ihrer Vielfalt, Faszination und in ihren Potenzialen zu entdecken gilt. Ein Verständnis für ihre Geschichte und Gegenwart, so ist zu hoffen, kann mit den Boden für zukünftige konstruktive Möglichkeiten bereiten.

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