Das Schöne im Abseits

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Gabriele Reiterer
Die Presse / Spectrum
12. Juni 2009

Von Zeitschicht zu Zeitschicht wandern, das ist Livorno.

Eine Traverse weist den Weg in die Stadt. Nur die Südländer verfügen über diesen, auch von der Armut diktierten, grausamen Pragmatismus im Bauen. Eine brutal gespannte breite Straßentrasse führt über die Vororte, links und rechts liegen die heruntergekommenen Viertel im tosenden Straßenlärm. Rechterhand erscheint plötzlich im Vorbeifahren im Augenwinkel eine palastartige monumentale Architektur. Style liberty nennen die Italiener sehr kitschig ihren Jugendstil. Wer zu Fuß zurückkehrt und unter der Trasse entlang spaziert, findet sich plötzlich vor einem riesigen rostigen Tor. Eine schwere Kette mit Vorhängeschloss bewacht den Eintritt in die Traumwelt. Livorno, die Stadt des 19. Jahrhunderts – opulent, füllig, eine Zauberwelt untermalt von den Klängen der Opern von Verdi, Donizetti und Puccini. Die Stufen sind vom Gras überwuchert, moosig, die Säulen und die Torbögen der prachtvollen Anlage abgebröckelt. L’ acqua della salute ist das magische Wort. Hier wurde die Welt des Wassers, das die Stadt für kurze Zeit erblühen ließ, zelebriert. Das Wasser der Gesundheit floss unaufhaltsam aus den Quellen. Livorno zählte in jenen Dekaden zu einer der glanzvollsten Städte Europas. Die Anlage besteht aus einem Hauptgebäude, den Kolonnaden und mehreren Nebengebäuden. Einst bildete der Palazzo den zentralen Ort der Stadt. Unser Jahrhundert hat den einstigen Mittelpunkt der Stadt ins Abseits gelegt, neben die mehrspurige Betontrasse. Sie hat den alten neofeudalen Ort unter sich begraben und die Welt des 19. Jahrhunderts an die Vergangenheit zurückgegeben. Im verwilderten, wuchernden Park liegen die Plastikhülsen der Einwegspritzen. Nur die drogati, die Drogensüchtigen suchen regelmäßig den Unort dieser Stadt auf. An manchen Torgittern der Nebengebäude hängen Namensschilder an den bröckelnden Mauerpfosten. Teile der Anlage sind bewohnt. Die ärmsten Stadtbewohner haben hier unter dem ohrenbetäubenden Lärm der Trasse ein Dach über dem Kopf gefunden und harren aus.

Durch die Büsche öffnet sich der Blick in eine kleine Küche. Am Fenster sitzt eine schwarze Katze. Die schwefelgelben Augen schauen unbeweglich und beobachten das Geschehen auf der Straße. Ihre Jungen jagen und springen zwischen einzelnen Grasbüscheln auf den zerbrochenen Steinplatten hinter den Oleanderbäumen. Kaum je verirrt sich ein Fußgänger hierher, in die Gärten der Armut.

Livorno: Industrie, Brüchigkeit, Armut. Im Reigen der italienischen Städte ist Livorno völlig bedeutungslos. Livorno ist eine Umsteigestation vom Land zum Wasser, die großen Fähren zu den Inseln legen im Hafen ab. So wenig fügt sich die Stadt in das italienische Image, dass fast kein Reiseführer Livorno mehr als einige knappe Zeilen widmet. So wenig will sich aber auch die Stadt selbst in die aufgeputzte Stadtlandschaft einreihen, scheint es, so wenig kümmert sich diese Stadt um einen ihr gebührenden Rang. Wie eine große alte Dame mit durchaus zweifelhafter Vergangenheit zeigt sich Livorno. Ohne sie zu verbergen – ganz im Gegenteil – die Spuren der Armut und der Härte trug die Stadt stets mit der ihr eigenen Noblesse.

Wenige hundert Meter weiter stadteinwärts liegt das ehemalige „Grandhotel“, ein Bau aus der Blütezeit Livornos. Heute befinden sich im palastartigen Gebäude Büros. Einst war es ein Punkt im magischen Triangel der Stadt des 19. Jahrhunderts. Neben der Kuranlage und dem Hotel bildete der monumentale Bahnhof das dritte Glied dieses Ensembles. Einst trat der Reisende, der Ankommende vor den Bahnhof hinaus in den riesigen Park und vor ihm lag das Hotel, rechts davon die Kuranlagen. La stazione hat nicht viel vom Flair jener Zeit eingebüßt. Heute vermischt es sich mit der kühlen, spröden Gegenwart italienischer Bahnhofssituationen, mit dem Schmutz des Alltags, die rythmisch-unverständlichen Durchsagen der Abfahrts-, Ankunftszeiten und Bahnsteignummern hallen durch den einstigen Traumpalast.

Im Zentrum von Livorno steht der einzige revolutionsklassizistische Bau außerhalb von Frankreich. La „gran cisterna“ von Pasquale Poccianti ist ein Tempel des Wassers. Wer in das sensationelle Bauwerk aus der Wende vom achtzehnten bis neunzehnten Jahrhundert Einlass erhält,  findet sich zwischen Rauschen, dunstigen Schwaden, Spiegelungen in einer Kathedrale des Wassers.

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